Gewaltfreie Kommunikation Workshop: Bedürfnisse statt Vorwürfe

Die Methode ist so wirkungsvoll, dass Satya Nadella bei seinem Antritt als Microsoft-CEO das Buch „Nonviolent Communication" zur Pflichtlektüre für alle Führungskräfte machte. Der Grund: GFK verändert nicht nur, wie wir sprechen – sie verändert, wie wir denken und zuhören. Sie ist keine Technik, sondern eine Haltung.
Die vier Schritte der GFK
GFK strukturiert Kommunikation in vier Komponenten: Beobachtung, Gefühl, Bedürfnis, Bitte. Diese Struktur verhindert, dass Gespräche zu Vorwürfen und Rechtfertigungen eskalieren.
Die Formel
Wenn ich sehe/höre [BEOBACHTUNG],
fühle ich mich [GEFÜHL],
weil mir [BEDÜRFNIS] wichtig ist.
Wärst du bereit, [BITTE]?
Die vier Komponenten im Detail
| Komponente | Was es ist | Was es NICHT ist |
|---|---|---|
| Beobachtung | Konkrete, wertfreie Beschreibung | Interpretation, Bewertung, Verallgemeinerung |
| Gefühl | Echte Emotion | Gedanke, Vorwurf, „Pseudo-Gefühl" |
| Bedürfnis | Universelles menschliches Bedürfnis | Strategie, konkrete Lösung |
| Bitte | Konkrete, erfüllbare Handlung | Forderung, Ultimatum |
Beispiel: Vorwurf → GFK
Vorwurf: „Du kommst immer zu spät! Du respektierst meine Zeit überhaupt nicht!"
GFK-Version: „Wenn du 20 Minuten nach der vereinbarten Zeit zum Meeting kommst (Beobachtung), bin ich frustriert (Gefühl), weil mir Verlässlichkeit und effiziente Nutzung unserer Zeit wichtig sind (Bedürfnis). Wärst du bereit, mir Bescheid zu geben, wenn du dich verspätest? (Bitte)"
Komponente 1: Beobachtung
Eine Beobachtung beschreibt, was tatsächlich passiert ist – ohne Bewertung, Interpretation oder Verallgemeinerung.
Beobachtung vs. Bewertung
| Bewertung (vermeiden) | Beobachtung (anstreben) |
|---|---|
| „Du bist unzuverlässig." | „Du hast die Deadline am Montag nicht eingehalten." |
| „Du hörst nie zu." | „Als ich eben gesprochen habe, hast du auf dein Handy geschaut." |
| „Du bist aggressiv." | „Du hast die Tür laut zugeschlagen." |
| „Das Meeting war chaotisch." | „Im Meeting haben drei Personen gleichzeitig gesprochen." |
Typische Fallen
- Verallgemeinerungen: „immer", „nie", „ständig", „typisch"
- Interpretationen: „Du willst mich absichtlich ärgern"
- Etikettierungen: „Du bist faul/dumm/rücksichtslos"
- Vergleiche: „Im Gegensatz zu anderen machst du..."
Übung: Beobachtung formulieren
Formuliere diese Bewertungen als Beobachtungen:
Komponente 2: Gefühl
Ein Gefühl beschreibt, wie es mir geht – nicht, was ich über den anderen denke.
Echte Gefühle vs. Pseudo-Gefühle
| Pseudo-Gefühl (vermeiden) | Echtes Gefühl (anstreben) |
|---|---|
| „Ich fühle mich ignoriert." | „Ich bin traurig/enttäuscht." |
| „Ich fühle mich manipuliert." | „Ich bin verunsichert/frustriert." |
| „Ich fühle mich nicht respektiert." | „Ich bin verletzt/verärgert." |
| „Ich fühle, dass du mich nicht magst." | „Ich bin unsicher/besorgt." |
Pseudo-Gefühle sind verkleidete Vorwürfe. „Ich fühle mich ignoriert" sagt eigentlich: „Du ignorierst mich." Das ist eine Bewertung, kein Gefühl.
Gefühlswortschatz erweitern
Angenehme Gefühle: Froh, erleichtert, zuversichtlich, dankbar, begeistert, entspannt, erfüllt, hoffnungsvoll, inspiriert, neugierig, berührt
Unangenehme Gefühle: Frustriert, enttäuscht, verärgert, traurig, besorgt, unsicher, verwirrt, erschöpft, ängstlich, hilflos, ungeduldig
Warum Gefühle benennen?
Gefühle zu benennen hat zwei Effekte:
Komponente 3: Bedürfnis
Hinter jedem Gefühl steht ein erfülltes oder unerfülltes Bedürfnis. Bedürfnisse sind universell – jeder Mensch teilt sie.
Universelle Bedürfnisse (Auswahl)
| Kategorie | Bedürfnisse |
|---|---|
| Autonomie | Freiheit, Selbstbestimmung, Wahlmöglichkeit |
| Verbindung | Zugehörigkeit, Nähe, Wertschätzung, Verständnis |
| Integrität | Authentizität, Ehrlichkeit, Sinn, Selbstwert |
| Sicherheit | Stabilität, Vorhersehbarkeit, Vertrauen |
| Wachstum | Lernen, Entwicklung, Herausforderung |
| Erholung | Ruhe, Entspannung, Balance |
| Effektivität | Kompetenz, Beitrag leisten, Wirksamkeit |
Bedürfnis vs. Strategie
| Strategie (vermeiden) | Bedürfnis (anstreben) |
|---|---|
| „Ich brauche, dass du pünktlich bist." | „Mir ist Verlässlichkeit wichtig." |
| „Ich brauche mehr Homeoffice." | „Mir ist Autonomie/Flexibilität wichtig." |
| „Ich brauche eine Gehaltserhöhung." | „Mir ist Wertschätzung/Sicherheit wichtig." |
Strategien sind konkrete Lösungen. Bedürfnisse sind das dahinterliegende „Warum". Wenn wir auf Bedürfnisebene kommunizieren, öffnen sich mehr Lösungsmöglichkeiten.
Der Schlüsselsatz
„...weil mir [Bedürfnis] wichtig ist."
Dieser Satz verankert die Aussage im eigenen Bedürfnis – nicht im Fehlverhalten des anderen.
Komponente 4: Bitte
Eine Bitte beschreibt eine konkrete Handlung, die mein Bedürfnis erfüllen könnte – ohne Forderungscharakter.
Bitte vs. Forderung
| Forderung (vermeiden) | Bitte (anstreben) |
|---|---|
| „Du musst pünktlich sein." | „Wärst du bereit, mir Bescheid zu geben, wenn du dich verspätest?" |
| „Hör mir gefälligst zu!" | „Kannst du mir kurz sagen, was bei dir angekommen ist?" |
| „Das muss bis morgen fertig sein." | „Wäre es dir möglich, das bis morgen abzuschließen?" |
Merkmale einer guten Bitte
- Positiv formuliert: Was ich möchte (nicht was ich nicht möchte)
- Konkret: Klare Handlung, nicht vage Absicht
- Erfüllbar: Im Einflussbereich des anderen
- Im Jetzt: Was kann jetzt oder bald getan werden?
- Freiwillig: „Wärst du bereit..." (echte Wahlfreiheit)
Zwei Arten von Bitten
Handlungsbitte: Bitte um konkrete Aktion
- „Kannst du mir bis Freitag das Dokument schicken?"
- „Wie geht es dir damit, wenn ich das sage?"
- „Kannst du mir sagen, was bei dir angekommen ist?"
Workshop-Ablauf: 3–4 Stunden
Phase 1: Einführung und Grundhaltung (30 Minuten)
GFK als Haltung, nicht nur Technik.
- Die Geschichte der GFK (Marshall Rosenberg, Bürgerrechtsbewegung, Friedensarbeit)
- Grundannahme: Menschen handeln, um Bedürfnisse zu erfüllen
- Die Metapher: Wolfssprache vs. Giraffensprache
- Die vier Komponenten im Überblick
Phase 2: Die vier Schritte erarbeiten (60 Minuten)
Jede Komponente einzeln verstehen und üben.
Beobachtung (15 Min.)
- Unterschied Beobachtung/Bewertung anhand von Beispielen
- Übung: Bewertungen in Beobachtungen umformulieren
- Echte Gefühle vs. Pseudo-Gefühle
- Gefühlswortschatz erweitern (Liste verteilen)
- Übung: „Wie fühlst du dich, wenn...?"
- Universelle Bedürfnisse vorstellen
- Bedürfnis vs. Strategie unterscheiden
- Übung: „Welches Bedürfnis steckt dahinter?"
- Bitte vs. Forderung
- Merkmale guter Bitten
- Übung: Forderungen in Bitten umformulieren
Phase 3: Integration – Die vier Schritte verbinden (45 Minuten)
Vollständige GFK-Aussagen formulieren und üben.
Übung 1: Transformieren (20 Min.) Teilnehmer erhalten „Wolfssprache"-Aussagen und formulieren sie nach GFK um:
- „Du unterbrichst mich ständig!"
- „Dein Bericht ist zu spät und schlampig."
- „Du denkst nur an dich."
- Jeder denkt an eine aktuelle Situation, die ihn ärgert/frustriert
- Formuliert nach den vier Schritten
- In Paaren austauschen und verbessern
Phase 4: Empathisches Zuhören (30 Minuten)
GFK ist nicht nur Sprechen – sondern vor allem Hören.
Empathie vs. Sympathie/Ratschlag
- Empathie: „Du bist traurig, weil dir Wertschätzung wichtig ist?"
- Sympathie: „Das kenne ich, mir ging es genauso."
- Ratschlag: „Du solltest einfach..."
- Einer erzählt von einer frustrierenden Situation (3 Min.)
- Der andere hört nur zu und spiegelt Gefühle/Bedürfnisse
- Wechsel
Phase 5: Anwendung im Team-Kontext (30 Minuten)
GFK im Arbeitsalltag.
- Typische Konfliktsituationen im Team identifizieren
- Gemeinsam GFK-Lösungsansätze entwickeln
- Grenzen von GFK besprechen (akute Gefahr, Machtgefälle)
- Team-Vereinbarung: Wie wollen wir GFK nutzen?
Phase 6: Transfer und Abschluss (15 Minuten)
Was nehme ich mit?
- Jeder formuliert: „Ein Gespräch, das ich mit GFK führen werde"
- Ressourcen für Vertiefung
- Reflexionsrunde
Praktische Übungen
Übung: Gefühle und Bedürfnisse erraten
Einer beschreibt eine Situation. Die anderen raten:
- „Bist du frustriert, weil dir Effizienz wichtig ist?"
- „Bist du enttäuscht, weil du Wertschätzung brauchst?"
Übung: Selbst-Empathie
Bevor wir mit anderen kommunizieren, klären wir uns selbst:
- Was ist passiert? (Beobachtung)
- Wie fühle ich mich?
- Welches Bedürfnis ist nicht erfüllt?
- Was wünsche ich mir?
Übung: Dialog-Rollenspiel
Zwei Personen spielen einen Konflikt – erst „normal", dann mit GFK. Die Gruppe beobachtet den Unterschied.
GFK im Arbeitsalltag
Typische Anwendungssituationen
| Situation | GFK-Ansatz |
|---|---|
| Kritik an Arbeitsergebnis | Konkrete Beobachtung + eigenes Bedürfnis statt Vorwurf |
| Deadline-Konflikt | Bedürfnisse beider Seiten klären, gemeinsam Lösung finden |
| Unterbrechungen in Meetings | Bitte formulieren, eigenes Bedürfnis nach Gehörtwerden benennen |
| Fehlende Wertschätzung | Eigene Bedürfnisse ausdrücken, statt Vorwürfe zu machen |
E-Mail-Kommunikation
Auch schriftlich kann GFK helfen:
Vorher: „Ihr Bericht kam zu spät und war unvollständig. Das ist inakzeptabel."
Mit GFK: „Ich habe den Bericht am Mittwoch erhalten, zwei Tage nach der vereinbarten Deadline. Dabei fehlten die Zahlen für Q3. Mir ist wichtig, dass ich meine Planung termingerecht machen kann. Könnten wir besprechen, wie wir das beim nächsten Mal sicherstellen?"
Häufige Einwände und Antworten
„Das klingt so künstlich."
Am Anfang ja – wie jede neue Fähigkeit. Mit Übung wird es natürlicher. Der Fokus liegt nicht auf exakter Formulierung, sondern auf der Haltung: Bedürfnisse verstehen statt urteilen.
„Ich kann nicht immer so reden."
GFK ist ein Werkzeug, kein Zwang. In akuten Situationen (Gefahr, Zeitdruck) kann direktes Handeln nötig sein. GFK hilft vor allem bei Gesprächen, wo Verständigung das Ziel ist.
„Mein Gegenüber macht das ja nicht."
GFK wirkt auch einseitig. Wenn du anders kommunizierst, verändert sich die Dynamik – auch wenn der andere GFK nicht kennt.
„Das funktioniert nicht bei meinem Chef/Kollegen."
GFK ist kein Allheilmittel. Bei strukturellen Machtproblemen oder bewusster Manipulation braucht es andere Ansätze. Aber selbst dann hilft Klarheit über eigene Bedürfnisse.
GFK und Selbst-Empathie
Bevor wir mit anderen empathisch kommunizieren können, brauchen wir Empathie für uns selbst.
Der innere Dialog
Wenn wir wütend oder frustriert sind, urteilen wir oft über uns selbst:
- „Ich hätte das besser machen sollen."
- „Warum bin ich so empfindlich?"
- Was habe ich getan/erlebt? (Beobachtung)
- Wie fühle ich mich?
- Welches Bedürfnis war nicht erfüllt?
- Was brauche ich jetzt?
Selbst-Empathie als Vorbereitung
Vor einem schwierigen Gespräch: Erst klären, was in mir los ist. Dann spreche ich aus einem Zustand der Klarheit, nicht der Reaktivität.
Fazit: Verbindung statt Recht haben
Gewaltfreie Kommunikation verändert die Grundannahme von Gesprächen: Statt „Wer hat Recht?" fragt sie „Welche Bedürfnisse sind im Spiel?". Dieser Shift öffnet Räume für Lösungen, die beide Seiten berücksichtigen.
Im Team-Kontext bedeutet GFK: Konflikte werden ansprechbar, Feedback wird hörbar, und Zusammenarbeit basiert auf Verständnis statt auf Durchsetzung. Das braucht Übung – aber die Investition lohnt sich.
Der nächste Schritt: Nimm dir eine aktuelle Situation, die dich ärgert. Formuliere sie nach den vier Schritten. Beobachte, was sich verändert – in dir und im Gespräch.
Muss ich immer alle vier Schritte sagen?
Nein. Die vier Schritte sind ein innerer Prozess. Manchmal reicht es, nur das Bedürfnis zu benennen oder nur empathisch zuzuhören. Die Formel ist ein Trainingsrad – mit Übung wird sie flexibler.
Wie reagiere ich, wenn jemand mich angreift?
Erst Selbst-Empathie: Was fühle ich, was brauche ich? Dann empathisch hören: Was braucht der andere? Oft steckt hinter Angriffen ein unerfülltes Bedürfnis. „Es klingt, als wärst du frustriert, weil dir X wichtig ist?"
Ist GFK nicht zu weich für Business?
GFK bedeutet nicht Nachgiebigkeit. Man kann klar und bestimmt kommunizieren – ohne zu verletzen. Bedürfnisse benennen ist stärker als Vorwürfe machen.
Wie lange dauert es, GFK zu lernen?
Die Grundlagen sind an einem Tag vermittelbar. Die Integration braucht Monate bis Jahre. Die meisten berichten von ersten Erfolgen nach wenigen Wochen bewusster Übung.
Wo finde ich mehr über GFK?
Marshall Rosenbergs Buch „Nonviolent Communication: A Language of Life" ist der Klassiker. Das Center for Nonviolent Communication (cnvc.org) bietet Trainings weltweit. Viele Städte haben lokale Übungsgruppen.
Stand: Dezember 2025
Quellen: Marshall B. Rosenberg – Nonviolent Communication: A Language of Life Center for Nonviolent Communication (CNVC) Oren Jay Sofer – Say What You Mean (2018) Microsoft – Satya Nadella Culture Transformation Case Study


