Pre-Mortem Workshop: Scheitern simulieren, bevor es passiert

Ein Pre-Mortem ist ein Workshop, bei dem das Team so tut, als wäre ein Projekt bereits gescheitert – bevor es überhaupt richtig losgeht. Die Frage lautet nicht "Was könnte schiefgehen?", sondern "Was ist schiefgegangen?" Dieser Perspektivwechsel durchbricht Gruppendenken und Überoptimismus. Studien zeigen: Teams, die einen Misserfolg simulieren, verbessern ihre Fähigkeit zur Risikoerkennung um 30%.
Warum Pre-Mortems funktionieren
Der Begriff "Pre-Mortem" stammt aus der Medizin. Bei einer Obduktion (Post-Mortem) wird nach dem Tod untersucht, woran der Patient gestorben ist. Ein Pre-Mortem macht dasselbe – nur vorher, wenn noch Zeit zum Handeln ist.
Gary Klein, Kognitionspsychologe und Experte für Entscheidungsfindung, entwickelte die Methode und stellte sie 2007 in der Harvard Business Review vor. Sein Ausgangspunkt: Menschen sind notorisch schlecht darin, Risiken vorherzusehen – besonders wenn sie optimistisch und motiviert sind.
Das Problem mit klassischen Risikoanalysen: Die typische Frage "Was könnte schiefgehen?" wird oft unter der impliziten Annahme gestellt, dass hoffentlich nichts gefunden wird. Das Ergebnis: Risiken werden unterschätzt oder beschönigt.
Der Pre-Mortem-Trick: Wenn das Scheitern als Tatsache präsentiert wird, ändert sich die Denkrichtung. Statt nach Gründen für Optimismus zu suchen, sucht das Team nach Erklärungen für das Desaster. Das ist psychologisch einfacher und liefert bessere Ergebnisse.
Die psychologischen Mechanismen
1. Durchbrechung von Gruppendenken
Wenn alle erwarten, dass ein Projekt gelingt, fällt es schwer, Bedenken zu äußern. Wer Probleme benennt, wirkt wie ein Spielverderber. Beim Pre-Mortem ist es umgekehrt: Alle sollen Gründe fürs Scheitern finden. Bedenken äußern wird zur Aufgabe.
2. Reduzierung von Überoptimismus
80% der Autofahrer glauben, besser als der Durchschnitt zu fahren – mathematisch unmöglich. Ähnlich überschätzen Projektteams ihre Erfolgschancen. Das Pre-Mortem zwingt zur kritischen Reflexion.
3. Prospective Hindsight
Menschen sind gut darin, vergangene Ereignisse zu erklären – besser als zukünftige vorherzusagen. Das Pre-Mortem nutzt diese Stärke, indem es die Zukunft als Vergangenheit behandelt.
4. Legitimation von Kritik
Wer bei einem normalen Meeting sagt "Das wird nicht funktionieren", eckt an. Beim Pre-Mortem ist genau das die Aufgabe. Das senkt die Hemmschwelle.
Der Pre-Mortem Workshop: Ablauf in 5 Schritten
Vorbereitung
- Zeitpunkt: Nach der Projektplanung, aber vor dem offiziellen Start
- Teilnehmer: Alle Projektbeteiligten plus 1-2 Außenstehende
- Dauer: 60-90 Minuten
- Material: Post-its, Flipchart, Timer
Schritt 1: Szenario setzen (5 Minuten)
Der Facilitator eröffnet mit einer Ansage wie:
"Stellt euch vor, wir befinden uns ein Jahr in der Zukunft. Wir haben den Plan in seiner jetzigen Form umgesetzt. Das Ergebnis war eine Katastrophe – ein spektakuläres Scheitern. Das Projekt ist komplett gegen die Wand gefahren."
Wichtig: Das Szenario muss ernst genommen werden. Kein Schmunzeln, kein Relativieren. Das Scheitern ist Fakt.
Schritt 2: Ursachenforschung (15 Minuten)
Jeder schreibt still für sich auf, was schiefgegangen sein könnte. Eine Ursache pro Post-it. Alles ist erlaubt – von realistisch bis absurd.
Hilfsfragen:
- Warum ist das Projekt gescheitert?
- Was haben wir übersehen?
- Welcher kritische Moment war der Wendepunkt?
- Wer oder was hat uns ausgebremst?
- Interne Faktoren (Team, Ressourcen, Entscheidungen)
- Externe Faktoren (Markt, Wettbewerb, Regulierung)
- Technische Probleme
- Kommunikationsfehler
- Unvorhergesehene Ereignisse
Schritt 3: Sammlung und Kategorisierung (20 Minuten)
Reihum liest jeder eine Ursache vor. Keine Diskussion, nur Sammeln. Die Post-its werden nach Themen gruppiert.
Typische Cluster:
- Ressourcenmangel (Zeit, Budget, Personal)
- Stakeholder-Probleme (fehlende Unterstützung, Widerstand)
- Technische Risiken
- Abhängigkeiten von Dritten
- Scope Creep
- Kommunikationsdefizite
Schritt 4: Priorisierung (15 Minuten)
Welche Risiken sind am wahrscheinlichsten und hätten die größten Auswirkungen?
Methode: Dot Voting Jeder erhält 3 Punkte und verteilt sie auf die Risiken, die er für am kritischsten hält.
Alternative: 2x2-Matrix
- X-Achse: Wahrscheinlichkeit
- Y-Achse: Auswirkung
Schritt 5: Gegenmaßnahmen (20 Minuten)
Für die Top-5-Risiken werden Präventionsmaßnahmen entwickelt:
| Risiko | Präventionsmaßnahme | Verantwortlich | Frist |
|---|---|---|---|
| Schlüsselperson fällt aus | Wissenstransfer, Dokumentation | PM | Vor Start |
| Budget wird gekürzt | Szenarien vorbereiten, Sponsor einbinden | PM | Woche 2 |
| Lieferant verzögert | Backup-Lieferant identifizieren | Einkauf | Woche 1 |
Varianten des Pre-Mortems
Die "Erfolg vs. Misserfolg"-Variante
Gary Klein empfiehlt ursprünglich, das Team in zwei Gruppen zu teilen:
- Gruppe A: Das Projekt ist grandios gescheitert
- Gruppe B: Das Projekt war ein sensationeller Erfolg
Das "Zeitungs-Pre-Mortem"
Teilnehmer schreiben fiktive Zeitungsartikel oder Tweets aus der Zukunft, die das Scheitern beschreiben. Das macht die Übung lebendiger und konkreter.
Beispiel-Tweet:
"BREAKING: [Unternehmen] stoppt Projekt nach 18 Monaten und 2 Mio. € – 'Wir haben die Kundenakzeptanz massiv überschätzt'"
Das "10-10-10-Pre-Mortem"
Die Frage wird zeitlich gestaffelt:
- Was könnte in 10 Tagen schiefgehen?
- Was in 10 Monaten?
- Was in 10 Jahren?
Wann ein Pre-Mortem durchführen?
Ideale Zeitpunkte
- Nach der Planungsphase: Der Plan steht, aber die Umsetzung hat noch nicht begonnen
- Vor großen Investitionen: Bevor viel Geld fließt
- Bei neuen Teams: Die Methode hilft, unterschiedliche Perspektiven einzubinden
- Bei hohem Risiko: Projekte mit vielen Unbekannten
Nicht geeignet
- Zu früh: Wenn der Plan noch zu vage ist, fehlt die Grundlage
- Zu spät: Wenn die Umsetzung läuft, ist der Handlungsspielraum begrenzt
- Bei Kleinprojekten: Der Aufwand lohnt sich nicht für jede kleine Initiative
Pre-Mortem vs. andere Risikomethoden
| Methode | Fokus | Timing | Stärke |
|---|---|---|---|
| Pre-Mortem | "Was ist schiefgegangen?" | Vor Projektstart | Durchbricht Optimismus |
| Post-Mortem | "Was ist schiefgegangen?" | Nach Projektende | Lernen für die Zukunft |
| Risikoanalyse | "Was könnte schiefgehen?" | Laufend | Systematische Erfassung |
| FMEA | Fehlermöglichkeiten analysieren | Produktentwicklung | Technische Tiefe |
Das Pre-Mortem ersetzt keine systematische Risikoanalyse – es ergänzt sie um eine psychologische Komponente.
Typische Fehler beim Pre-Mortem
Fehler 1: Zu spät durchführen
Wenn die Planung abgeschlossen und das Budget freigegeben ist, bleibt wenig Handlungsspielraum. Besser früh ansetzen.
Fehler 2: Homogene Gruppe
Wenn nur das Kernteam teilnimmt, kommen ähnliche Perspektiven zusammen. 1-2 Außenstehende bringen frische Blickwinkel.
Fehler 3: Fehlende psychologische Sicherheit
Wenn Teilnehmer Angst haben, "negativ" zu wirken, bleiben die wichtigsten Risiken unausgesprochen. Der Facilitator muss betonen: Es geht um Kreativität, nicht um Schuld.
Fehler 4: Keine Konsequenzen
Ein Pre-Mortem ohne Follow-up ist Zeitverschwendung. Die identifizierten Risiken müssen in Maßnahmen münden.
Fehler 5: Szenario nicht ernst nehmen
"Ja, aber so schlimm wird es schon nicht..." – Wer das Szenario relativiert, unterminiert die Methode. Das Scheitern muss als Tatsache behandelt werden.
Pre-Mortem in agilen Projekten
In agilen Teams lässt sich das Pre-Mortem mit bestehenden Ritualen verbinden:
Sprint-Pre-Mortem (15 Minuten): Zu Beginn eines Sprints: "Stellt euch vor, der Sprint ist vorbei und wir haben das Sprint-Ziel verfehlt. Was ist passiert?"
Release-Pre-Mortem (30-60 Minuten): Vor einem größeren Release: Vollständiges Pre-Mortem für die Deployment-Phase.
Retrospektive-Integration: Statt "Was lief schlecht?" die Frage: "Wenn wir die gleichen Fehler wiederholen, was wird im nächsten Sprint schiefgehen?"
Persönliche Erfahrung: Ein Pre-Mortem, das ein Projekt rettete
2024 begleitete ich ein Pre-Mortem für eine Software-Migration. Das Team – 12 Personen – war zuversichtlich: Der Plan stand, die Ressourcen waren da, das Management hatte grünes Licht gegeben.
Ich stellte das Szenario auf: "Es ist März 2025. Die Migration ist komplett gescheitert. Die alte Software läuft noch, die neue wurde nie produktiv. Was ist passiert?"
In den ersten fünf Minuten kamen die üblichen Verdächtigen: "Budget wurde gekürzt", "Schlüsselperson hat gekündigt". Dann sagte jemand leise: "Der wichtigste Lieferant hat Insolvenz angemeldet."
Stille.
Es stellte sich heraus: Das gesamte Migrationsprojekt hing von einem kleinen Software-Anbieter ab, der die Schnittstelle zur Altsystem liefern sollte. Kein Backup-Plan, keine Alternative. Und der Anbieter hatte schon mal Zahlungsprobleme gehabt.
Das Team entwickelte einen Plan B. Drei Monate später meldete der Anbieter tatsächlich Insolvenz an. Das Projekt wurde trotzdem erfolgreich abgeschlossen – mit der Alternative, die im Pre-Mortem identifiziert worden war.
Wie lange dauert ein Pre-Mortem?
60-90 Minuten sind ideal. Kürzer wird es oberflächlich, länger ermüdend.Wer sollte teilnehmen?
Alle Projektbeteiligten plus 1-2 Außenstehende. Bei großen Teams: Repräsentanten aus allen Bereichen.Brauchen wir einen externen Facilitator?
Hilfreich, aber nicht zwingend. Wichtig ist, dass jemand neutral moderiert und die Zeit im Blick behält.Kann ein Pre-Mortem demotivieren?
Bei richtiger Durchführung nicht. Das Ziel ist nicht Pessimismus, sondern Vorbereitung. Die Erkenntnis "Wir haben einen Plan B" motiviert mehr als blinder Optimismus.Wie unterscheidet sich Pre-Mortem von Post-Mortem?
Pre-Mortem: Vor dem Projekt, simuliertes Scheitern, präventiv. Post-Mortem: Nach dem Projekt, tatsächliche Analyse, lernend. Beide sind wertvoll – Pre-Mortem verhindert Fehler, Post-Mortem hilft, aus ihnen zu lernen.Checkliste: Pre-Mortem vorbereiten
Vor dem Workshop:
- [ ] Termin festlegen (nach Planung, vor Start)
- [ ] Teilnehmer einladen (Projektteam + 1-2 Externe)
- [ ] Material vorbereiten (Post-its, Flipchart, Timer)
- [ ] Projektplan/Scope als Grundlage bereitstellen
- [ ] Szenario klar und ernst setzen
- [ ] Silent Writing für Ursachen
- [ ] Alle Perspektiven einbinden
- [ ] Priorisierung durchführen
- [ ] Konkrete Maßnahmen definieren
- [ ] Ergebnisse dokumentieren
- [ ] Maßnahmen mit Verantwortlichen versehen
- [ ] Risiken in Projektplan integrieren
- [ ] Follow-up-Termin setzen
Dieser Artikel wurde zuletzt aktualisiert im Dezember 2025.


