Ratgeber

Werte-Workshop: Implizite Teamwerte explizit machen

Werte-Workshop: Implizite Teamwerte explizit machen
Teams mit expliziten, geteilten Werten performen besser. Laut einer Studie von Deloitte sind Mitarbeiter in werte-orientierten Teams **40% engagierter** und zeigen **25% weniger Fluktuation**. Die Werte selbst sind dabei weniger wichtig als der Prozess: Das gemeinsame Erarbeiten schafft Alignment, d...

Teams mit expliziten, geteilten Werten performen besser. Laut einer Studie von Deloitte sind Mitarbeiter in werte-orientierten Teams 40% engagierter und zeigen 25% weniger Fluktuation. Die Werte selbst sind dabei weniger wichtig als der Prozess: Das gemeinsame Erarbeiten schafft Alignment, das keine Management-Vorgabe erreicht.

Warum Werte mehr sind als Poster an der Wand

Werte, die in einem Vorstandsmeeting definiert und dann verkündet werden, bleiben Worthülsen. Echte Werte entstehen im Dialog – sie werden gelebt, nicht plakatiert. Der Unterschied zeigt sich in Stressmomenten: Wenn Deadline und Qualität kollidieren, welcher Wert gewinnt?

Der Unterschied: Espoused Values vs. Values-in-Use

Espoused ValuesValues-in-Use
Was wir sagen, dass uns wichtig istWas wir tatsächlich tun
Steht im LeitbildZeigt sich in Entscheidungen
Wird kommuniziertWird beobachtet
Oft generischOft spezifisch für das Team

Ein Unternehmen kann „Innovation" als Wert proklamieren – aber wenn jeder Fehler bestraft wird, ist der echte Wert „Fehlervermeidung". Der Werte-Workshop deckt diese Diskrepanzen auf.

Ich habe mit einem Team gearbeitet, das „Transparenz" als Kernwert nannte. Im Workshop stellte sich heraus, dass kritische Informationen regelmäßig zurückgehalten wurden – aus Angst vor Konsequenzen. Die ehrliche Diskussion darüber war schmerzhaft, aber notwendig. Erst danach konnte das Team entscheiden, ob es Transparenz wirklich leben wollte und was das bedeuten würde.

Wann ein Werte-Workshop sinnvoll ist

SituationNutzen des WorkshopsPriorität
Neues Team formiert sichKultur von Anfang an gestaltenSehr hoch
Nach Merger oder RestrukturierungUnterschiedliche Kulturen integrierenSehr hoch
Wiederkehrende KonflikteWertekonflikte identifizierenHoch
Kulturwandel gewünschtNeue Werte verankernHoch
Jährlicher Team-ReviewWerte reflektieren und aktualisierenMittel
Onboarding neuer FührungskräfteWerte-Transfer sicherstellenMittel

Der ideale Zeitpunkt ist früh – bevor sich implizite Normen verfestigt haben. Ein Werte-Workshop im ersten Monat eines Teams kostet drei Stunden. Dieselbe Arbeit nach einem Jahr kann Tage dauern, weil eingefahrene Muster aufgebrochen werden müssen.

Workshop-Ablauf: Von individuell zu kollektiv

Phase 1: Einstieg und Kontext (20–30 Minuten)

Der Facilitator erklärt, was Werte sind, warum sie wichtig sind und wie der Workshop abläuft. Ein kurzes Warm-up schafft psychologische Sicherheit.

Einstiegsfragen:

  • Was war eine Situation, in der du dich in einem Team richtig wohl gefühlt hast? Was hat das ermöglicht?
  • Was war eine Situation, in der du dich in einem Team unwohl gefühlt hast? Was war anders?
Diese Reflexion aktiviert das implizite Wissen über Werte, ohne sie direkt zu benennen. Die Geschichten liefern später Material für die Werte-Identifikation.

Phase 2: Individuelle Werte identifizieren (30–40 Minuten)

Jeder Teilnehmer reflektiert zunächst allein: Welche Werte sind mir persönlich wichtig? Diese Phase verhindert Gruppendenken und stellt sicher, dass alle Perspektiven einfließen.

Methode: Werte-Karten

Bereite Karten mit 30–50 Werten vor (z.B. Ehrlichkeit, Innovation, Qualität, Teamwork, Autonomie, Sicherheit, Wachstum, Balance...). Jeder Teilnehmer wählt:

  • 5 Werte, die ihm persönlich am wichtigsten sind
  • 3 Werte, die er im Team besonders wichtig findet
Alternative: Leere Karten, auf denen Teilnehmer eigene Werte notieren. Diese Methode ist offener, aber zeitaufwändiger.

Phase 3: Werte teilen und clustern (45–60 Minuten)

Alle stellen ihre gewählten Werte vor und erklären, warum sie wichtig sind. Die Gruppe clustert ähnliche Werte und identifiziert Muster.

Ablauf:

  • Jeder präsentiert seine 3 Team-Werte in 2–3 Minuten
  • Karten an die Wand heften
  • Gemeinsam clustern: Welche Werte gehören zusammen?
  • Cluster benennen: Was ist das übergreifende Thema?
  • Die Diskussion um die Cluster ist oft wertvoller als das Ergebnis. „Gehört ‚Offenheit' zu ‚Transparenz' oder zu ‚Feedback-Kultur'?" – solche Fragen klären Bedeutungen und schaffen geteiltes Verständnis.

    Phase 4: Priorisieren und auswählen (30–45 Minuten)

    Ein Team kann nicht 15 Werte leben. Die Priorisierung zwingt zu schwierigen Entscheidungen – und genau das macht die Werte wertvoll. Ein Wert, der alles bedeutet, bedeutet nichts.

    Methode: Dot Voting

    Jeder Teilnehmer erhält 5 Klebepunkte und verteilt sie auf die Werte-Cluster. Die 3–5 Werte mit den meisten Punkten werden die Kernwerte des Teams.

    Alternative: Paarweiser Vergleich

    Bei ähnlichen Punktzahlen: Direkte Abstimmung zwischen zwei Werten. „Wenn wir nur einen wählen könnten: Qualität oder Geschwindigkeit?" Diese Zuspitzung erzwingt Klarheit.

    Wichtig: Die Auswahl ist nicht für die Ewigkeit. Werte können sich entwickeln, Teams können den Workshop wiederholen. Aber im Moment braucht es eine Entscheidung.

    Phase 5: Werte mit Bedeutung füllen (45–60 Minuten)

    Ein Wort ist noch kein Wert. „Innovation" kann tausend Dinge bedeuten. Diese Phase definiert, was die gewählten Werte konkret für das Team bedeuten. Ohne diese Klärung sind Werte Interpretationsspielraum.

    Für jeden gewählten Wert diskutieren:

  • Definition: Was bedeutet dieser Wert für uns?
  • Verhalten: Woran erkennt man, dass wir den Wert leben?
  • Gegenprobe: Woran erkennt man, dass wir ihn verletzen?
  • Beispiele: Konkrete Situationen aus unserem Alltag
  • Beispiel-Ergebnis für den Wert „Offenheit":

    • Definition: Wir teilen Informationen proaktiv und sprechen Probleme an, bevor sie eskalieren.
    • Verhalten: Kritisches Feedback in Retrospektiven; Fehler werden ohne Schuldzuweisung besprochen.
    • Gegenprobe: Wenn Informationen zurückgehalten werden oder Kritik nur hintenherum geäußert wird.

    Phase 6: Transfer in den Alltag (20–30 Minuten)

    Werte ohne Verankerung verblassen. Diese Phase plant, wie die Werte im Alltag lebendig bleiben. Ohne konkrete Mechanismen sind die Workshop-Erkenntnisse in zwei Wochen vergessen.

    Fragen für den Transfer:

    • Wie erinnern wir uns an unsere Werte? (Visualisierung im Teamraum, digitales Board)
    • In welchen Ritualen können wir Werte reflektieren? (Retrospektiven, Feedbackrunden)
    • Wie sprechen wir an, wenn ein Wert verletzt wird?
    • Wann überprüfen wir, ob unsere Werte noch passen?
    Praxis-Tipp: Wähle einen „Werte-Paten" für jeden Wert – eine Person, die besonders darauf achtet, dass der Wert gelebt wird, und bei Bedarf sanft erinnert.

    Übungen und Methoden für den Workshop

    Die Werte-Auktion

    Eine spielerische Methode zur Priorisierung: Werte werden versteigert. Jeder Teilnehmer hat ein Budget (z.B. 100 Punkte) und bietet auf Werte. Die Werte mit den höchsten Geboten werden Team-Werte.

    Die Auktion erzwingt Trade-offs und macht Prioritäten sichtbar. Wer viel für „Innovation" bietet, hat weniger für „Stabilität". Die Diskussion um die Gebote ist aufschlussreich.

    Die Werte-Hierarchie

    Werte stehen nicht gleichberechtigt nebeneinander – in Konfliktsituationen muss einer gewinnen. Diese Übung klärt die Hierarchie.

    Szenario: „Ein wichtiger Kunde droht zu kündigen, wenn wir nicht ein Feature liefern, das unsere Qualitätsstandards verletzt. Was tun wir?"

    Die Diskussion zeigt, welcher Wert in echten Konflikten Vorrang hat. Diese Klarheit ist wertvoll für zukünftige Entscheidungen.

    Die Werte-Zeitreise

    Teilnehmer reflektieren, wie sich ihre persönlichen Werte über die Zeit verändert haben. Diese Übung schafft Tiefgang und zeigt, dass Werte nicht statisch sind.

    Fragen:

    • Welcher Wert war dir vor 10 Jahren wichtig, ist es heute aber weniger?
    • Welcher Wert ist wichtiger geworden?
    • Was hat die Veränderung ausgelöst?

    Typische Herausforderungen und Lösungen

    Herausforderung: Generische Werte ohne Substanz

    „Teamwork" und „Qualität" klingen gut, aber bedeuten für jeden etwas anderes. Ohne Konkretisierung sind solche Werte wertlos.

    Lösung: Die Phase 5 (Bedeutung füllen) ausreichend Zeit geben. Nachfragen stellen: „Was genau meinst du mit Qualität? Wie sähe ein Tag aus, an dem wir Teamwork perfekt leben?"

    Herausforderung: Soziale Erwünschtheit

    Teilnehmer wählen Werte, die „gut klingen", statt solche, die ihnen wirklich wichtig sind. Der Workshop produziert ein politisch korrektes Leitbild ohne echte Überzeugung.

    Lösung: Anonyme erste Runde (Werte auf Karten schreiben ohne Namen). Provokante Fragen stellen: „Seid ihr sicher, dass euch das wirklich wichtig ist – oder klingt es nur gut?"

    Herausforderung: Wertekonflikte im Team

    Wenn zwei Fraktionen fundamental unterschiedliche Werte haben, entsteht Spannung. Innovation vs. Stabilität, Autonomie vs. Alignment – manche Konflikte sind strukturell.

    Lösung: Den Konflikt benennen und aushalten. Nicht jeder Wertekonflikt ist lösbar. Manchmal ist das Ergebnis: „Wir haben unterschiedliche Prioritäten – und das ist okay, solange wir es wissen und damit umgehen können."

    Herausforderung: Management-Vorgaben

    Wenn die Unternehmenswerte vorgegeben sind, fühlt sich der Workshop wie Theater an. Das Team hat keine echte Wahl.

    Lösung: Den Rahmen ehrlich kommunizieren. „Die Unternehmenswerte sind X, Y, Z. Wie interpretieren wir sie für unser Team? Welche zusätzlichen Werte sind uns wichtig?" Innerhalb des Rahmens gibt es Spielraum.

    Werte im Alltag lebendig halten

    Ein Werte-Workshop ist kein Abschluss, sondern ein Anfang. Die eigentliche Arbeit passiert danach – Tag für Tag, Entscheidung für Entscheidung.

    Verankerungsmechanismen

    • Visualisierung: Werte-Poster im Teamraum, digitaler Banner
    • Rituale: Werte-Check in Retrospektiven („Welchen Wert haben wir diese Woche gut gelebt?")
    • Feedback: Werte als Feedback-Dimension („Dein Verhalten in der Situation hat unseren Wert X perfekt verkörpert")
    • Hiring: Werte als Kriterium im Einstellungsprozess
    • Entscheidungen: Bei wichtigen Entscheidungen fragen: „Welcher Wert leitet uns hier?"

    Regelmäßige Review

    Plane einen Werte-Review alle 6–12 Monate:

    • Leben wir unsere Werte? Wo ja, wo nicht?
    • Sind die Werte noch relevant oder haben sich unsere Prioritäten verändert?
    • Gibt es neue Teammitglieder, die die Werte kennenlernen sollten?
    Teams, die ihre Werte regelmäßig reflektieren, haben 62% stärkere Teamidentität (Gallup Team Engagement Research). Der Review hält die Werte lebendig.

    Remote Werte-Workshop

    Werte-Workshops funktionieren auch remote – mit einigen Anpassungen. Die emotionale Tiefe ist schwieriger zu erreichen, aber die Methoden lassen sich übertragen.

    Digitale Tools

    • Miro/Mural: Für Werte-Karten, Clustering, Voting
    • Mentimeter: Für anonyme Abstimmungen und Live-Ergebnisse
    • Breakout Rooms: Für Kleingruppenarbeit bei der Konkretisierung

    Anpassungen für Remote

    • Mehr Zeit für Sharing-Runden (weniger spontaner Dialog)
    • Strengeres Timeboxing (Online-Ermüdung)
    • Kürzere Sessions über mehrere Tage verteilen
    • Asynchrone Vorbereitung: Werte-Reflexion vor dem Workshop
    Praxis-Tipp: Lass Teilnehmer vor dem Workshop 5 Werte auswählen und kurze Notizen dazu machen. Das spart Zeit im Workshop und ermöglicht tieferes Nachdenken.

    Fazit: Werte als Kompass für Entscheidungen

    Werte sind kein Nice-to-have, sondern der Kompass für die tägliche Arbeit. Sie entscheiden, wie ein Team mit Druck umgeht, wie Prioritäten gesetzt werden, wie Konflikte gelöst werden. Teams ohne klare Werte navigieren blind.

    Ein Werte-Workshop schafft Klarheit. Er macht sichtbar, was sonst implizit bleibt. Er erzwingt Entscheidungen, die sonst vermieden werden. Und er schafft ein gemeinsames Vokabular für das, was dem Team wichtig ist.

    Die Werte selbst sind dabei weniger wichtig als der Prozess. Das gemeinsame Ringen um Bedeutung, das Abwägen zwischen Prioritäten, die ehrliche Reflexion – diese Erfahrung verbindet stärker als jedes Poster an der Wand.


    Wie viele Werte sollte ein Team haben?

    Drei bis fünf Kernwerte sind ideal. Mehr ist schwer zu merken und zu leben. Lieber wenige Werte mit klarer Bedeutung als viele generische Begriffe.

    Was tun, wenn die Team-Werte den Unternehmenswerten widersprechen?

    Das ist ein wichtiges Signal. Entweder interpretiert das Team die Unternehmenswerte anders, oder es gibt eine echte Diskrepanz. Beides ist wertvoll zu wissen. Die Diskrepanz sollte thematisiert, nicht ignoriert werden.

    Wie gehe ich mit dominanten Stimmen um, die ihre Werte durchdrücken?

    Strukturierte Methoden wie Dot Voting geben jeder Stimme gleiches Gewicht. Anonyme Abstimmungen reduzieren sozialen Druck. Als Facilitator aktiv nach stilleren Stimmen fragen.

    Sollten Werte als Team oder mit der Führungskraft erarbeitet werden?

    Im Team, mit der Führungskraft als gleichwertigem Teilnehmer. Wenn die Führungskraft Werte vorgibt, entsteht kein echtes Commitment. Der Prozess ist mindestens so wichtig wie das Ergebnis.

    Wie messe ich, ob Werte gelebt werden?

    Durch Beobachtung und Feedback. In Retrospektiven fragen: „Welchen Wert haben wir gut gelebt? Wo gab es Wertekonflikte?" Auch 360-Grad-Feedback kann Werte als Dimension enthalten.


    Stand: Dezember 2025

    Quellen: Deloitte – Culture and Engagement Study 2024 Gallup Team Engagement Research MIT Sloan – Values-Driven Organizations Study Barrett Values Centre – Cultural Transformation Tools